Haut Couture

07 / 10 / 2022
Ein Tattoo ist schon lange kein Tabu mehr. Im Gegenteil. Fast jeder will eines haben. Am liebsten von jemandem wie Mila Delacroix. Ihre Tätowierungen sind gerade besonders begehrt. Weil sie sehr filigran und äußerst kunstvoll sind. Quasi pieksfein.
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Ob sie mit dem, was sie tut, andere Menschen berührt – darüber muss sich Mila Delacroix nun wirklich keine Gedanken machen. Wenn sie ihrer Leidenschaft nachgeht, geht das jedes Mal unter die Haut. Zugegeben: Als Tätowiererin gehört das zu ihrem Job. Eine Selbstverständlichkeit ist es trotzdem nicht. Dass Mila heute als Künstlerin besticht, liegt nämlich vor allem an ihrer Liebe zu ihrem Handwerk. Mila tätowiert, seit sie 21 Jahre alt ist. 2013 hat sie gemeinsam mit einem Freund ein eigenes Studio gegründet: High Frequency
Tattoos. Heute ist die 33-jährige Grazerin in der Szene so bekannt, dass sie Tattoo-Termine nur mehrere Monate im Vorhinein vergibt. Für uns hatte Mila ausnahmsweise schon etwas früher Zeit. Wir waren aber auch nicht zum Stechen, sondern nur zum Sprechen da. Über ein Handwerk, das Menschen schon seit Jahrtausenden begeistert und über Tätowierungen, die für die Ewigkeit sind.

MARTIN AUER - Mila, du bist bekannt für deine Fineline-Tattoos. Also Tätowierungen, die sich aus sehr zarten Linien zusammensetzen. Als jemand, der keine Tattoos hat, könnte ich mir vorstellen, dass feine Motive ein guter Einstieg sind. Denn wovor wir Untätowierten ja die größte Angst haben: dass es wehtut. Und so dünne Linien, das ist doch sicher weniger schmerzhaft als großflächige Bilder.

MILA DELACROIX - Ja, das glauben viele, aber das stimmt leider nicht. Man muss sich das nämlich so vorstellen: Eine normal dicke Nadel besteht aus vielen dünnen Nadeln, die im Kreis aneinander gelötet sind. Die schiebt man über die Haut; es entsteht also eine Aufschürfung. Bei der Nadel, die ich verwende, die gerade einmal 0,1 Millimeter dünn ist, schneide ich in die Haut – und das ist blöderweise unangenehmer. Darüber waren schon einige Kundinnen und Kunden entsetzt. (lacht)

MARTIN AUER - Die Frage hast du wahrscheinlich schon tausendmal beantwortet – aber wo tut es am wenigsten weh?

MILA DELACROIX - Das kann man schwer sagen. Das ist sehr individuell und hängt zum Beispiel von der Tagesverfassung ab. Wie gut hat man geschlafen, hat man davor gegessen? Hat man am Vortag Alkohol getrunken? Das ist ein böses No-no.

MARTIN AUER - Wahrscheinlich spielt es letztendlich auch keine allzu große Rolle, oder? Wenn ich unbedingt ein Tattoo haben möchte, geht das eben nicht ganz ohne Schmerz. Wobei ich eines weiß: Ich würde mir niemals die Lippen tätowieren lassen.

MILA DELACROIX - Wieso das?

MARTIN AUER - Als ich 14 oder 15 Jahre alt war, hatte ich einen Motocross-Unfall. Ich bin zum Glück nicht gestürzt, aber mit meinem Kopf am Lenker aufgeschlagen. Dabei hat sich einer meiner Zähne durch meine Oberlippe gebohrt. Im ersten Moment hab ich nichts gespürt, nur gemerkt: Hm, da stimmt was nicht. Aber als die Wunde später im Spital genäht werden musste: Bist du deppert, hat das wehgetan! An die Schmerzen werde ich mich für immer erinnern! Deshalb: kein Lippen-Tattoo. Aber sag mal: Wie bist du eigentlich zu deinem ersten Tattoo gekommen?

MILA DELACROIX - Mir haben Tätowierungen schon immer gut gefallen. Ich glaube vor allem deswegen, weil sie meiner Mutter nicht gefallen haben. Ich hab dann von ihr zum 16. Geburtstag trotzdem eine Tätowierung geschenkt bekommen – unter der Bedingung, dass es die erste und einzige bleibt. (lacht) Das war ein Stern auf meiner Schulter. Ich bin aber froh darüber, dass ich so viel Respekt vor meiner Mutter gehabt habe, weil ich danach wirklich zwei Jahre gewartet hab, bis ich mir die nächste Tätowierung stechen hab lassen. Davon war meine Mutter dann nicht begeistert. Sie war übrigens auch nicht begeistert über meine Entscheidung, Tätowiererin zu werden. Das sei ja nix, das sei ja kein Beruf.

MARTIN AUER - Wie geht’s deiner Mutter heute damit, dass du Tätowiererin bist?

MILA DELACROIX - Mittlerweile ist sie stolz darauf. Wobei man schon sagen muss, dass es gesellschaftlich noch immer kein angesehener Beruf ist. Ich bin schon öfter gefragt worden, was ich hauptberuflich arbeite.

MARTIN AUER - Dabei hat angeblich jeder vierte Österreicher ein Tattoo. Ich hab sogar gelesen, dass bei den jungen Menschen, den unter 35-Jährigen, fast die Hälfte tätowiert ist. Da finde ich es schon sehr komisch, dass es noch immer nicht akzeptiert ist.

MILA DELACROIX - Naja, viele Menschen sehen Tätowierungen selbst nicht als so schlimm an, aber die Tätowierer. Die haben leider keinen besonders guten Ruf. Das kommt von früher, wo man Tattoos noch hauptsächlich mit Gefängnissen verbunden hat. Mir ist das schon passiert, dass jemand erstaunt darüber war, dass ich eine Matura und ein Studium abgeschlossen habe.

MARTIN AUER - Du hättest so viele andere Möglichkeiten gehabt! (lacht)

MILA DELACROIX - Genau! Und dann such ich mir gerade Tätowiererin aus! (lacht auch)

MARTIN AUER - Als ich meinem Vater das Unternehmen abgekauft hab, gab es auch Freunde, die meinten: Was, Martin? Du hast was gelernt, du hast studiert, du hast ja Optionen! Jetzt wirst du Bäcker?

MILA DELACROIX - Die Leute sehen oft nicht, was dahintersteckt und was man daraus machen kann: in meinem Fall Kunst. Das ist das Schöne am Tätowieren: dass man Kunst auf Menschen verwirklichen kann, die man gemeinsam mit ihnen erarbeitet. Es gibt momentan keinen anderen Beruf, mit dem ich als bildende Künstlerin meinen Lebensunterhalt verdienen könnte.

MARTIN AUER - Ich hab damals auch gewusst, dass wir aus der Bäckerei etwas Besonderes machen können. Brot ist so etwas Ursprüngliches und Altes. Das älteste Kulturgut, seit wir Menschen sesshaft geworden sind. Auch Tattoos, noch so eine Parallele zwischen unseren Handwerken, gibt es ja schon ganz, ganz lange.

MILA DELACROIX - Diese ursprünglichen Tätowierungen, wie man sie in den Naturvölkern gefunden hat und teilweise noch immer findet, faszinieren mich sehr. Damit wurde ein Lebensabschnitt besiegelt, man musste sich die Tattoos erst verdienen. Diesen Zugang finde ich sehr schön: eine bestimmte Zeit, die einen geprägt hat, auf der Haut festzuhalten. In der Jetztzeit tu ich mir da oft ein bisschen schwer. Vielen jungen Menschen geht’s mehr um das Tätowiertsein als ums Motiv. Auch wenn ich gegen mein Geschäft rede, aber ich finde das so schade. Vor allem weil sich die Leute dessen oft nicht bewusst sind, dass die Tattoos halt wirklich bis zum Lebensende da sind.

MARTIN AUER - Wie gehst du eigentlich mit dieser Verantwortung um?

MILA DELACROIX - Ich war die ersten zwei Jahre tatsächlich immer nervös, bevor die Kundinnen und Kunden zu mir ins Studio gekommen sind. Da hatte ich schon etwa fünf Jahre tätowiert. Das war so furchtbar, ich war jedes Mal so aufgeregt. Dann war auf einmal die Routine drin.

MARTIN AUER - Du arbeitest seit mehr als zehn Jahren in diesem Beruf. Was begeistert dich noch immer daran?

MILA DELACROIX - Das Handwerk an sich. Auf der Haut schaut ja nichts gleich aus wie auf einer Zeichnung. Klar, das ist manchmal anstrengend. Gleichzeitig ist es unglaublich spannend, was man mit der Rundung eines Körpers und mit dem Motiv machen kann. Im Voraus zu überlegen, auf welche Körperstelle ein Tattoo kommt und wie ich es ausrichten muss und welche Form es haben sollte, damit es die Anatomie nicht entstellt, sondern organisch wirkt. Darüber nachzudenken, welche Nadelstärken ich kombinieren könnte, damit die Tätowierung einen schönen Kontrast für das Auge ergibt … Ich könnte mich stundenlang damit beschäftigen, da bin ich ein echter Nerd. Tätowieren ist jedes Mal einzigartig. Die Haut, meine Leinwand, unterscheidet sich von Kunde zu Kunde.

MARTIN AUER - Du meintest vorhin, für dich sei Tätowieren eine eigene Kunst. Gibt es denn Künstler, die dich beeindrucken und dabei inspirieren?

MILA DELACROIX - Definitiv. Ich hab ja Kunstgeschichte studiert und seither sind die Van Eyck-Brüder, die die Ölmalerei in der Renaissance perfektioniert haben, meine absoluten Helden! Wer mich auch beeinflusst hat: Alfons Mucha, ein tschechischer Maler, der im gleichen Ort wie mein Opa aufgewachsen ist. Er hat ebenfalls mit dicken Außenlinien und feinen Details gearbeitet. Von ihm hab ich mir einiges abgeschaut, gerade am Anfang.

MARTIN AUER - Ich hab mich auch gefragt, ob dein Name vielleicht etwas mit dem französischen Künstler Eugène Delacroix, einem Vertreter der Spätromantik, zu tun hat.

MILA DELACROIX - Ja, der kommt wirklich von diesem Delacroix. Ich muss ganz ehrlich sagen, ich hab das von der Aussprache her schön gefunden. Mein eigentlicher Name ist ja Milena Bucek. Irgendwann dachte ich mir, ich nenne mich anders, und mein Künstlerinnenname ist dann geblieben. Mila Delacroix klingt halt einfach schön. Nicht so wie, naja, Milena Bucek. (lacht)

MARTIN AUER - Wenn ich mir so anschaue, was du schon alles tätowiert hast, denke ich mir, dass vieles davon wirklich wahre Kunstwerke sind. An welche Motive erinnerst du dich, weil sie so besonders oder außergewöhnlich waren?

MILA DELACROIX - Hm. Mich überraschen, komm ich grad drauf, eher immer die Menschen als die Motive. Meine älteste Kundin war zum Beispiel 72 Jahre alt, eine sehr coole Lady. Sie hat sich Ringe auf ihre Finger machen lassen, weil sie meinte, sie würde den Schmuck am Ende des Tages oft nur mehr schwer von den Händen bekommen. Das Problem hätte sie mit tätowierten Ringen nicht. Ein anderer Kunde war ein katholischer Pfarrer, das war fantastisch. Ich kann nicht sagen, welchen Wunsch er hatte, nur so viel: Es war ein Tattoo am Oberarm und es hatte nichts mit Jesus zu tun.

MARTIN AUER - Ist das Zufall, wer bei dir im Studio landet, oder suchst du dir deine Kundinnen und Kunden aus?

MILA DELACROIX - Ich vergebe viermal pro Jahr neue Termine. Wer Interesse hat, muss sich mit einem Online-Formular bewerben. Und dann schau ich einfach, was von den Wünschen ich gerne tätowieren möchte. Das ist ein Riesenprivileg! Dafür bin ich sehr, sehr dankbar. Ich weiß einfach, wenn ich etwas gerne mache, dann mache ich es gut. Und wenn ich etwas nicht so gerne mache, dann mache ich es halbherzig – und das soll ja gerade bei einer lebenslangen Tätowierung nicht so sein.

MARTIN AUER - Das ist auch einer unserer Leitsprüche, der uns dazu motiviert, etwas Besonderes zu machen.Vielen Dank für das Gespräch. Ich habe mir übrigens die ganze Zeit überlegt, was für ein Tattoo ich mir stechen lassen würde …

MILA DELACROIX - Und?

MARTIN AUER - Als ich etwa sieben Jahre alt war, habe ich das erste Mal ein Tattoo bewusst wahrgenommen. Zu der Zeit hat man in Graz nur selten Tattoos gesehen. Es war auf dem Unterarm eines Mannes in der Straßenbahn. Ein Anker und ein pfeildurchstochenes Herz – ich weiß noch, es war ganz grob und einfach gemacht. Wie vielleicht aus’m Häfn oder einer Hafenkneipe. So etwas wär’s vielleicht auch für mich. Ein Stück aus dem Ursprung der Tattoos in unserer Kultur.

MILA DELACROIX - Wir können uns gerne einen Terminausmachen. (lacht) Danke auch dir für das schöne Gespräch.
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