Die Kunst der Irritation

20 / 11 / 2023
Ein Gespräch zwischen einem Bühnen- und einem Brotverliebten.
Groß (MMH_AUER_Palmenhaus_Hires-6_rz)
Er erweckt Puppen zum Leben, begeistert Menschen als Kunstpfeifer und wirkte schon in unzähligen großen Theater- und Opernhäusern im deutschsprachigen Raum als Regisseur. Wie viel Kultur kann eigentlich in einer Person stecken? Ein Gespräch zwischen Martin und Nikolaus Habjan.

MARTIN AUER – Als ich mich mit deiner Person auseinandergesetzt habe, war ich direkt überwältigt. Du führst Regie, du bist Schauspieler, du bist Kunstpfeifer und verschreibst dich seit vielen Jahren dem Puppenspiel. Das ist so vielfältig! Wie bist du zu dem geworden, der du heute bist?

NIKOLAUS HABJAN – Ich würde mich gar nicht als so vielfältig bezeichnen. Alles, was ich mache, geht auf die Bühne – da läuft alles sehr spitz zusammen. Entwickelt hat sich das so, dass mich meine Eltern einfach immer machen haben lassen. Die haben gemerkt, dass ich bei gewissen Dingen ruhig geworden bin. Ich war ein etwas nervöses Kind, und wenn zum Beispiel Opernmusik gelaufen ist, war ich entspannt. Mit zehn wollte ich schon Opernregisseur werden, und später kamen dann die Puppen dazu. Und das Theater.

MARTIN AUER – Du warst sehr jung Direktor des Wiener Schuberttheaters. Das Theater ist deine große Leidenschaft geworden.

NIKOLAUS HABJAN – Ja, das stimmt. Wobei ich aktuell ein großes Problem mit dem Theater an sich habe. Ich finde, da gibt es eine riesige überaufgeregte Stimmung. Normalerweise sollte das Theater von Diskussion geprägt sein. Von unterschiedlichen Meinungen, von Respekt. Genau so, wie Demokratie eigentlich funktionieren sollte. Jetzt ist es sowohl im Theater wie auch in Politik und Gesellschaft so, dass man entweder für etwas oder gegen etwas sein muss. Es gibt keine respektvollen Schattierungen mehr.

MARTIN AUER – Ein Schwarz-Weiß-Denken! Wie meinst du das in Bezug auf das Theater?

NIKOLAUS HABJAN – Für mich ist die Bühne ein Ort, an dem alles erlaubt sein muss. Ich muss auch Kontroverses zeigen. Und nun wird gerade ernsthaft diskutiert, ob Schauspiel kulturelle Aneignung sei. Natürlich ist es das, und das ist ja auch der Sinn der Sache! Irritation ist wichtig. Ich gehe ja nicht ins Theater, um die Realität zu sehen. Theater ist eine Verarbeitung der Realität. Und diese Verarbeitung braucht man, um einen kathartischen Moment erleben, und das auf die eigene Realität anwenden zu können.

MARTIN AUER – Das bringt eben der Zeitgeist mit sich. Es ist ein neu verstandener Pluralismus, dem man generell fast überall begegnet. Warum im Theater stärker als in der Oper?

NIKOLAUS HABJAN – Im Theater ist einfach viel mehr Raum für Diskussion, die aber immer mehr zu einer Leerdiskussion wird. Man muss entweder so sein oder so, es gibt kein Dazwischen. Und dann ist da auch noch eine so große Wehleidigkeit. In der Oper geht es mehr ums Handwerk. Das macht es für mich wesentlich geerdeter. Im Theater sollte man eigentlich gegen Schubladisierung und Klischees kämpfen, macht aber genau das Gegenteil. Das Wichtigste ist doch, dass Menschen miteinander und nebeneinander leben können – sie sollen so sein dürfen, wie sie sind. Ich tue mir einfach schwer mit der genauen Kategorisierung von Menschen und Themen.

MARTIN AUER – Letztendlich geht es immer um Menschen. Das ist ja auch bei uns so. Wir sind ein gewachsenes Unternehmen mit 750 Kolleginnen und Kollegen. Wie geht man miteinander um? Das sind komplexe Fragestellungen, die sich da aufdrängen. In den letzten Jahren war es eine der schönsten Aufgaben, darüber nachzudenken: Wie arbeiten wir zusammen? Wie kann man das Beste für alle herausholen? Die Essenz aus diesem Kulturprozess haben wir auf einer Karte zusammengeschrieben. Da geht’s auch ganz viel um Begeisterungsfähigkeit.

NIKOLAUS HABJAN – Begeisterungsfähigkeit, das ist ein ganz schönes Wort. Ich bin ja Kunstpfeifer und liebe es einfach, Menschen für die Oper zu begeistern, die damit noch nichts
zu tun hatten!

MARTIN AUER Ja, das glaube ich. Für mich ist das auch so. Kolleg:innen für ihre Arbeit zu begeistern und Kund:innen für das, was wir tun – das mache ich aus Leidenschaft.
In unserem Magazin beschäftigen wir uns mit Nostalgie in all ihren Facetten. Was ist deine Meinung zur Aussage „Früher war alles besser“?

NIKOLAUS HABJAN – Das ist vollkommener Blödsinn. Die Gesellschaft war immer im Wandel. Es gibt Menschen, die aufhören, an der Welt teilzunehmen. Dann denkt man darüber nach, wie schön es war, in der Straßenbahn zu sitzen. In die neue steigt man aber nicht mehr ein, weil man nicht weiß, wohin sie fährt. Ich kenne eine 100-jährige Frau, die ist total offen und junggeblieben. Es kommt immer darauf an, wie weit man zurückdenkt. Und wie man damit umgeht.

MARTIN AUER – Wach, aufgeschlossen und interessiert zu sein und das auch zu bleiben, hilft.

NIKOLAUS HABJAN – Und man kann auf jeden Fall anerkennen, dass sich ganz viel verbessert hat. Das Leben vor 150 Jahren war geprägt von drei Dingen: Hunger, Krankheit und Krieg. Da wundert es nicht, dass Menschen früher so gläubig waren. Natürlich hat sich da einiges getan seit damals. Für Frauen, für Minderheiten.

MARTIN AUER – Ausruhen darf man sich aber trotzdem nicht. Darauf muss man achten.

NIKOLAUS HABJAN – Nein, und man soll irritieren. Der Liedermacher Georg Kreisler hat einmal gesagt „Wenn dir eine Menge zujubelt, freu dich nicht, sondern schau zuerst, wer dir zujubelt.“ Ich ziehe gern den Zorn der Menschen auf mich und betrachte das als Bestätigung. Wenn man irritiert und das Publikum zum Nachdenken anregt, dann kann man auch ein Umdenken herbeiführen.

MARTIN AUER – Ja, das läuft wohl in den meisten Organisationen so ähnlich ab. Neue Ideen irritieren und erscheinen oft verrückt. Es kommt schon auch immer wieder vor, dass ich höre, „Der Martin spinnt“.

NIKOLAUS HABJAN – Das Spinnen, das ist wundervoll, das sag ich immer. Einstein sagte schon, dass eine Idee nichts taugt, wenn sie nicht zuerst als verrückt abgetan wird. Das ist es, was auch das Theater leisten sollte.

MARTIN AUER – Das gilt wohl für alles, das etwas in Bewegung setzen soll. Lasst uns doch alle weiterspinnen. Lieber Nikolaus, vielen Dank für das inspirierende Gespräch. Wir sehen uns bestimmt bei einem deiner nächsten Auftritte!
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